Materialien zum Nationalsozialismus
Vermögensentzug, Rückstellung und Entschädigung in Österreich

Zivilakten der NS-Zeit / Gaupersonalamt des Reichsgaues Wien ("Gauakten") 1938–1945

Der Bestand enthält u.a. personenbezogene Akten aus diesen Zusammenhängen: Flüchtlingshilfswerk, Österreichische LegionDie Österreichische Legion ist eine paramilitärische Einheit der SA, in der sich die aufgrund des Verbots der NSDAP in Österreich im Jahr 1933 nach Deutschland geflüchteten Nationalsozialisten sammelten., NSDAP-Parteianwärter, NSDAP-Parteimitglieder, Personalakten der NSDAP-Parteifunktionäre, politische Beurteilungen.
Die Einzelfallsakten des Gaupersonalamtes Wien bildeten lediglich den Grundstock dieses Aktenbestandes, der durch vielfältigste Anreicherung teilweise den Charakter einer Dokumentation gewann. Soweit die betreffenden Unterlagen der NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in die Hände gefallen waren, wurde wohl schon ab März 1938 die Personalakten der Funktionäre ("Amtswalter") und politischen Beurteilungen der Bundesleitung der Vaterländischen FrontDie Vaterländische Front (VF) war eine am 20.5.1933 vom österreichischen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß geschaffene "überparteiliche" politische Organisation zur Zusammenfassung aller "regierungstreuen" Kräfte Österreichs (Einheitspartei), andere politische Parteien waren verboten. (Ständestaat) aufgebaut, sodass zahlreiche Akten weit in die 1930er Jahre zurückreichen. Den gleichen Zeitraum betreffen die im Deutschen Reich entstandenen und nach dem AnschlussAls Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, oder kurz "Anschluss", werden der Einmarsch deutscher Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten in Österreich am 12.3.1938 sowie die darauffolgende De-facto-Annexion durch das nationalsozialistische Deutsche Reich bezeichnet. Der "Anschluss" wurde offiziell durch das Wiedervereinigungsgesetz vollzogen. vielleicht sogar lückenlos in die Gauakten eingearbeiteten Unterlagen über Österreichische Legionäre und über geldliche Unterstützungen für ins Reich geflüchtete österreichische Nationalsozialisten (Flüchtlingshilfswerk). Ebenso wurden Akten des NS-Studentenbundes und Stammblätter gefallener und vermisster SS-Angehöriger (vermutlich dem SS-Ergänzungsamt Süd-Ost entstammend) in die Gauakten eingearbeitet.
Da einerseits die politische und strafrechtliche Vergangenheit der betroffenen Personen durchleuchtet und andererseits aktuelle gerichtsanhängige Fälle in die Akten aufgenommen wurden, enthalten die Akten oft nicht nur bis 1900 zurückreichende Urteilsausfertigungen, sondern auch Anklageschriften und Urteilsausfertigungen von Straf- und Parteigerichten 1938–1945 sowie von Volksgerichtsurteilen (vgl. StGBl Nr. 177/1945) der Nachkriegszeit. Auch Zeitungsausschnitte wurden den Akten beigelegt oder auch von den zu Beurteilenden oder sonstigen Einbringern eines Ansuchens vorgelegte Beweismittel. Die Eingeber übermittelten häufig auch Abschriften und Originale von persönlichen Dokumenten (kirchliche, standesamtliche und militärische Personaldokumente, Gesundheitszeugnisse, Dekrete und Diplome), Ausweise, Schilderungen der eigenen Taten und Erlebnisse sowie Empfehlungsschreiben. Neben Korrespondenzen über die betreffende Person finden sich in den Akten zahlreiche Parallelüberlieferungen zu Behörden und Dienststellen, deren Archivalien nur zum Teil erhalten sind (z.B. NS-Wiedergutmachungsstelle und NS-Vermittlungsstelle, Staatskommissär Dr. Otto Wächter (Berufsbeamtenangelegenheiten), Gildemeesteraktion zur Befreiung politischer Häftlinge, VolkssturmDer Volkssturm wurde vom NS-Regime 1944 einberufen, um die regulären Truppen der deutschen Wehrmacht zu verstärken. Alle bislang noch nicht kämpfenden waffenfähigen Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahren sollten eingezogen werden.).
Wohl nach Kriegsende wurden den sogenannten Gauakten erhalten gebliebene personenbezogene Akten des Gauschatzamtes und zahlreiche Karteien wie die sogenannte "Asozialenkartei", die "Warnkartei" (Warnungskartei vor politischen Gegnern, die im Organisationsbuch für die NSDAP 1937 nur für das Hauptpersonalamt der NSDAP vorgesehen war), Auszeichnungskarteien (z.B. Erinnerungsmedaille an den März 1938) sowie nach 1945 entstandene Karteikarten (aufgeklebte Ausschnitte aus den staatspolizeilichen Fahndungsblättern) eingearbeitet.
Aus dieser Entstehungsgeschichte ist erklärbar, dass das Bestehen eines Gauaktes bei weitem nicht notwendigermaßen bedeutet, dass der Betreffende NSDAP-Mitglied war. Vielmehr finden sich auch Akten über politische Gegner, Geistliche, Juden, KZ-Häftlinge und "Asoziale" in diesem Bestand. So manche Akten beziehen sich auf Personen, die das Dritte Reich sicherheitshalber zur Zeit des AnschlussesAls Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, oder kurz "Anschluss", werden der Einmarsch deutscher Wehrmachts-, SS- und Polizeieinheiten in Österreich am 12.3.1938 sowie die darauffolgende De-facto-Annexion durch das nationalsozialistische Deutsche Reich bezeichnet. Der "Anschluss" wurde offiziell durch das Wiedervereinigungsgesetz vollzogen. verlassen hatten (z.B. Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg). Manche Gauakten (z.B. von höheren SS-Führern) bestehen nur aus nach 1945 entstandenen Unterlagen, meist amerikanischer Provenienz, die im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung der betreffenden Personen angelegt wurden. Sehr dicht ist der Aktenbestand in Bezug auf Beamte und Kulturschaffende, da bei letzteren die Berufsausübung an die Zugehörigkeit zur betreffenden Standesvertretung (ReichsschrifttumskammerDie Reichsschrifttumskammer war eine der sieben Abteilungen der Reichskulturkammer (vgl. RGBl I 1933, S. 661ff)., ReichsfilmkammerDie Reichsfilmkammer war eine der sieben Abteilungen der Reichskulturkammer (vgl. RGBl I 1933, S. 661ff). etc, vgl. RGBl I 1933, S. 661ff) gebunden war und die Aufnahme in diese eine politische Perlustrierung voraussetzte. Ebenso scheint der überwiegende Teil der AriseureEin Ariseur ist eine Person, die sich im Zuge einer Arisierung bereicherte. und Kreditwerber in den Akten auf.
Der Aktenserie der politischen Beurteilungen ist jene der alphabetisch gereihten ca. 505.000 ausgefüllten "Erfassungsanträge" (= "Personal-Fragebögen") der OstmarkIm NS-Sprachgebrauch wurde die Bezeichnung "Österreich" bereits 1938 durch den Begriff "Ostmark" ersetzt. Mit der Verabschiedung des Ostmarkgesetzes (vgl. RGBl I 1939, S. 777ff) im April 1939 wurde dieser Begriff amtlich. Er wurde 1942 aber wieder abgeschafft und durch die Sammelbezeichnung "Donau- und Alpenreichsgaue" ersetzt. Mit dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich am 13.3.1938 wurde Österreich als "Land Österreich" zu einem Verwaltungssprengel des Deutschen Reichs und letztlich zu einer sich in Liquidation befindlichen Verwaltungseinheit. Die Liquidation war mit Ende März 1940 abgeschlossen. Ab 1.4.1940 gab es nur mehr die aus den ehemaligen Bundesländern hervorgegangenen Reichsgaue. und des Sudetengaues angeschlossen, die einen Gesamtüberblick über die illegalen Mitglieder der NSDAP 1938 bieten. Dieser Überblick ist allerdings insofern nicht mehr gegeben, als die Erfassungsanträge jener Personen, über die ein Akt der Hauptreihe existiert, dort eingelegt wurden und keine Gesamtliste oder Möglichkeit eines indexmäßigen Zugriffes auf die solchermaßen "verlagerten" Erfassungsanträge existieren.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurden die Akten nicht nur durch neu entstandene Unterlagen angereichert, sondern es wurden auch andere Aktenbestände (Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen ReichDas Amt des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich war eine neu geschaffene politische Funktion, in der Josef Bürckel v. 23.4.1938 bis zum 31.3.1940 mit der Aufgabe betraut war, die Ostmark politisch, wirtschaftlich und kulturell völlig in das Deutsche Reich einzugliedern. (Wiedervereinigungsgesetz, Anschluss), Statthalterei Wien Baldur von Schirach, Gauleitung NiederdonauNiederdonau war jene NS-Verwaltungseinheit, die das heutige Bundesland Niederösterreich sowie das nördliche Burgenland (Bezirke Neusiedl, Eisenstadt, Mattersburg und Oberpullendorf) sowie ab 1939 die Bezirke Südmährens (Nikolsburg, Znaim und Neubistritz) umfasste.) für Zwecke dieser Dokumentation seitens des Innenministeriums "geplündert" und oft sehr wesentliche Akten aus diesen Beständen entnommen und den Gauakten angeschlossen. Auch Akten des Bestandes "Bundeskanzleramt/Inneres (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit-Staatspolizeiliches Büro)" aus der Zeit 1933–1938 finden sich als aus dem Staatsarchiv entlehnte und nicht zurückgestellte Vorakten in den Gauakten.
Obwohl es sich prinzipiell um die Akten des Personalamtes des Reichsgaues Wien handelt und Akten anderer österreichischer Gaupersonalämter nicht enthalten sein dürften, reicht der territoriale Wirkungskreis – entgegen den Intentionen der NS-Machthaber – weit über Groß-WienNach dem "Anschluss" wurden große Gebiete rund um Wien in das Gemeindegebiet der Stadt eingegliedert. Die Stadt bestand in der Folge aus 26 Bezirken (vgl. RGBl I 1938, S. 1333). Im Jahr 1954 wurde Wien im Wesentlichen in den Grenzen von 1937 wiederhergestellt (vgl. BGBl Nr. 110/1954). hinaus. Personen aus dem gesamten ehemaligen österreichischen Bundesgebiet sind ebenso betroffen wie jene aus den 1939 angegliederten südböhmischen und südmährischen Gebieten, rückgesiedelte VolksdeutscheAls "Volksdeutsche" wurden im Nationalsozialismus Angehörige deutschsprachiger Minderheiten in Ost- und Südosteuropa bezeichnet – Deutsche also, die – anders als "Auslandsdeutsche" – die deutsche, österreichische oder Schweizer Staatsbürgerschaft nicht hatten. Im Deutschen Reich lebende deutsche Staatsbürger hießen "Reichsdeutsche". Volksdeutsche wurden während des NS-Regimes vielfach in das Deutsche Reich umgesiedelt und eingebürgert. (Optanten) aus dem Südosten Europas, Südtiroler und Rücksiedler aus der ganzen Welt. Vereinzelt gibt es "Sachakten" bzw. "Sammelakten", die sich auf Personengruppen (Firmenbelegschaften, Angehörige einer Berufsgruppe) beziehen.
Geschichte des Bestandes nach 1945:
Als sich 1945 die Front Wien näherte, misslang die beabsichtigte Vernichtung der Gauakten. Die Heizanlagen des Parlamentsgebäudes (des Gauhauses) wurden so voll gepfercht, dass nur eine (anhand von erhalten gebliebenen Karteikarten vermutbare) spezielle, großteils sachbezogene Geheimaktenserie der Vernichtung anheim gefallen sein dürfte, während die Personenakten so gut wie vollständig erhalten blieben.
Nach der Eroberung Wiens durch die Rote Armee gelang es dem Innenministerium, die Existenz der Gauakten vorerst zu verheimlichen. Die Beschlagnahme durch die Besatzungsmacht oder die kommunistisch orientierte Wiener Staatspolizei hätte zur Verschleppung des Aktenbestandes führen können.
Seitens der amerikanischen Besatzungsbehörden erfolgte 1948 die Übergabe der Erfassungsanträge, der Akten der Österreichischen Legion, des Flüchtlingshilfswerkes, des Studentenbundes sowie der Stammblätter gefallener und vermisster SS-Angehöriger an das Bundesministerium für Inneres. Diese Aktenserien dürften großteils aus der Münchner Reichsparteileitung gestammt haben und wurden in die Gauakten eingearbeitet. Lediglich die Serie der "Erfassungsanträge" blieb als alphabetisch gelagerte eigene Aktenserie bestehen.
In den folgenden Jahren traten geringe Verluste nicht nur durch die seitens bestechlicher Beamter durchgeführte Beseitigung einzelner Akten ein, sondern wohl auch durch – stets dementierte – "Freundschaftsdienste" zugunsten politischer Gesinnungsgenossen, die in der Korrektur (teilweisen Beseitigung) oder Vernichtung ganzer Akten bestanden. Immerhin spielte der Bestand eine – zweifellos überschätzte – Rolle als innenpolitisches Druckmittel, da es möglich schien, mit Hilfe dieser "Spitzelakten" den politischen Gegner im Bedarfsfall unter Druck zu setzen.
Verwandter Bestand: Bundesarchiv Berlin – Bestand des ehemaligen Berlin Document Centers (BDC)

Literatur:
Hugo Portisch: Österreich II. Die Wiedergeburt unseres Staates, S. 318f (zur Auffindung und Sicherung der Gauakten nach Kriegsende)
Wilhelm Svoboda: Franz Olah. Eine Spurensuche, S. 85ff (zur öffentlichen Diskussion der 1960er-Jahre über die Vernichtung der Gauakten, wobei diese mit den Staatspolizeiakten gleichgesetzt wurden)

http://www.archivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=5462

Standort:Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA) / Archiv der Republik (AdR)
Provenienz:Gaupersonalamt des Reichsgaues Wien 1938–1945
Der Bestand wurde dem ÖStA/AdR Ende 1990 vom BMBundesministerium, Bundesminister/in für Inneres übergeben.
Träger:Flachware/Original
Umfang:5.750 Akten, 1.000 Kartons
Angaben zur Vollständigkeit:Bestand teilweise unvollständig
Zeitraum: 1938–1945
Ordnung:alphabetisch
numerisch
Details zur Ordnung:Nur die Akten der Erfassungsanträge sind alphabetisch geordnet
Benützungsbeschränkungen:Datenschutz/Sperrfrist
Details zur Benützungsbeschränkung:Die Akten werden nach dem Tod der Betroffenen zur Benützung freigegeben, ist das Todesjahr nicht bekannt, 100 Jahre nach dem Geburtsjahr. Bei Bestellung ist das Geburtsdatum der Person anzugeben.

Hilfsmittel für die Suche im Bestand (Findbehelf):


Ansprechperson(en):